Der 9. März 1933 wurde zum entscheidenden Wendepunkt im Leben von Friedrich Marschner. Danach war nichts mehr so, wie zuvor. Was war geschehen? In den Tagen nach dem von den neuen faschistischen Machthabern am 27. Februar 1933 initiierten Reichstagsbrand arbeiteten die Nazis lange Listen von zu verhaftenden Personen ab. Betroffen waren vor allem Kommunisten, Sozialdemokraten und verschiedenste Personen, die sich frühzeitig gegen das faschistische Regime gestellt hatten. Friedrich Marschner arbeitete in den Chemnitzer Wanderer- Werken. Am Spätnachmittag des 9. März kam er, wie stets an Werktagen, mit dem Zug am Burgstädter Bahnhof an. Burgstädter Polizisten verfolgten ihn bis nach Hause in die Chemnitzer Straße 33 und verhafteten ihn dort im Beisein seiner Mutter und seiner vierjährigen Tochter Irma.
Wie kam Friedrich Marschner auf eine solche Liste? Er war in Burgstädt als ein politisch und gesellschaftlich engagierter Mensch bekannt. Dies gipfelte in der Tatsache, dass er noch am 5. März 1933, bei der letzten nahezu freien Reichstagswahl, in der Burgstädter Region eines der 81 Reichstagsmandate der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) erhielt. Am 9. März annullierte die Hitlerregierung die KPD-Mandate und ließ eine Vielzahl der Mandatsträger verhaften. Friedrich Marschner gehörte dazu, weil er sich über viele Jahre hinweg in Burgstädt in der KPD und beim Aufbau eines Arbeiterschwimmvereines engagierte, weil er im Burgstädter Gebiet und in den Chemnitzer Wanderer-Werken in Schönau ein bekannter Gewerkschaftsfunktionär war.
Am 8. Mai 1899 kam Friedrich Marschner als Sohn des Schmiedes Oswin Marschner und der Handschuhnäherin Anna Marschner in Chemnitz auf die Welt. In Burgstädt, wohin die Familie frühzeitig übergesiedelt war, hatten die Marschners nach dem frühen Tod des Vaters (1913) ein schweres Leben. Die Großeltern halfen, wo sie konnten, und auch Friedrich sowie sein zwei Jahre jüngerer Bruder Rudolf halfen im Kindesalter der Mutter beim Herstellen von Handschuhen. Im Jahre 1913 begann Friedrich bei der Firma F. A. Köpke in Burgstädt (später VEB Feinspinnerei Burgstädt) eine Lehre als Maschinenschlosser. Zeitgenossen bescheinigten ihm eine hohe Intelligenz, jedoch kam ein Studium aus finanziellen Gründen nicht in Frage. Mit seinem frühen Eintritt in eine Vorläuferorganisation der Sozialistischen Arbeiterjugend bereits 1913 demonstrierte er politisches Interesse. Ende 1916 erhielt der erst 17-jährige die Einberufung als Soldat. Er erlebte die schrecklichen Ereignisse des 1. Weltkrieges als Infanterist an der Westfront. Die Kriegserlebnisse, die Geschehnisse in Russland, die Nachkriegsentwicklung in Deutschland und ein entsprechender Einfluss seiner Burgstädter Freunde führten bei ihm zum Entschluss, sich politisch zu engagieren. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg trat er in die „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (USPD) ein und wurde im Juni 1919 Mitglied der „Freien Sozialistischen Jugend“ (FSJ), der Vorläuferorganisation des „Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands“ (KJVD). Als sich Ende 1920 der linke Flügel der USPD mit der KPD vereinigte, war auch Friedrich Marschner dabei. Gemeinsam mit seinen Burgstädter und Chemnitzer Freunden wie Paul Nestler, Johannes und Kurt Ulbricht, Erich Knorr, Max Weigel, Max Müller, seinem Bruder Rudolf Marschner und vielen anderen engagierte sich Friedrich Marschner für Menschen in der Region in linken Partei-, Gewerkschafts- und Sportorganisationen. Mit engagierter Arbeit im Alltäglichen, wie Jugendweihefeiern oder KPD- Veranstaltungen im „Deutschen Haus“ in Burgstädt aber auch mit fundiertem Studium politischer Literatur erarbeitete sich Friedrich Marschner Respekt bei Gleichgesinnten und Gegnern. Die Teilnahme am XI. Parteitag der KPD im März 1927 in Essen oder die Fahrt als Transportleiter der Chemnitzer Umlanddelegation zum II. Reichsjugendtag der KJVD nach Hamburg im April 1927 sowie die Arbeit als Stadtrat der KPD-Fraktion in Burgstädt zwischen 1929 und 1933 waren äußeres Zeichen dieser Anerkennung.
Viel Zuspruch erfuhr Friedrich Marschner als Gründer und Vorsitzender des Arbeiterschwimmvereines in Burgstädt. Im 1910 erbauten Freibad des „Naturheilvereins“ übte bereits der bürgerliche „Deutsche Schwimmverein“. Als Alternative gründeten Friedrich Marschner, Paul Nestler und Max Weigel um 1920 einen Arbeiterschwimmverein, der zum 13. Bezirk (Burgstädt-Limbach) im Land Sachsen des Arbeiter-Turn-und Sport Bundes (ATSB) gehörte und sich wahrscheinlich „Freie Schwimmvereinigung Burgstädt“ nannte. Die Verantwortlichen entwickelten einen regen Übungs- und Wettkampfbetrieb. Der Sportschwimmer Friedrich Marschner half gelegentlich bei den Wasserballern aus, wo er mit seinen 1,92 m Körpergröße meist im Tor stand. Ab 1925 gehörte Friedrich Marschner zur Landesleitung der „Freien Wassersport Vereinigung Sachsens“, die unter dem Dach des ATSB stand. Für das Wintertraining organisierten die Burgstädter Fahrten in die Hallenbäder nach Chemnitz oder Glauchau. Im Sommer waren die von den Schwimmsportlern organisierten Badfeste stets Höhepunkte im Gemeinschaftsleben der Stadt. Als sich um 1928 die Auseinandersetzungen zwischen KPD und SPD auch im Sport zuspitzten, kam es auch hier zur Spaltung. Die Burgstädter Arbeiterschwimmer, die 1929 bereits über 50 Mitglieder hatten schlossen sich nun der der KPD nahestehenden „Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit“ an.
Besondere Beliebtheit erlangte Friedrich Marschner als aktiver Gewerkschafter. Nachdem er seit Kriegsende bis etwa 1926 bei der Firma Grosser Markersdorf (GROMA) gearbeitet hatte, wechselte er in die Chemnitzer Wanderer-Werke nach Schönau. Im Kampf um höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen oder mehr Arbeitsschutz erlangte Friedrich Marschner zunehmend das Vertrauen seiner Arbeitskollegen. Wegen seiner Einstellung zur Arbeit, seines Könnens und seiner Exaktheit war er auch am Arbeitsplatz beliebt. Aufgrund seiner hohen Popularität wählten ihn die Arbeiter der Wanderer –Werke um 1930 in den Betriebsrat. Dies geschah, obwohl er auf Anweisung seiner Partei auf einer alternativen Liste der Gewerkschaftsopposition antrat.
Als besondere Eigenschaften von Friedrich Marschner hoben die Zeitgenossen stets seine Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Offenheit, sein ruhiges und überlegtes Auftreten, seine Überzeugungskraft hervor. In Burgstädt war er nicht nur wegen seiner imposanten Größe eine populäre und beliebte Person. Seit 1927 war er mit seiner Lebensgefährtin Gerda Sittner zusammen. Nach der Geburt der Tochter Irma 1929 lebte die kleine Familie in einer gemeinsamen Wohnung in der Chemnitzer Straße 33. Gemeinsam verbrachten sie viel Freizeit mit Bootfahren, Wandern und Lesen und sorgten sich um ihre Tochter.
„Nehmt mir meinen Vati nicht weg“, rief die kleine Irma zu den Burgstädter Polizisten als Friedrich Marschner am 9. März 1933 verhaftet wurde. So hatte es später die Mutter von „Fritz“ berichtet, die Augenzeugin war. Nach der Machtergreifung der NSDAP am 30. Januar 1933 hatten Friedrich Marschner und auch sein Bruder Rudolf zunehmend mit einer Verhaftung gerechnet. Teilweise schliefen sie bereits an anderen Orten. Rudolf Marschner wurde bereits am Vormittag des 9. März verhaftet. Für die Brüder wurde von nun an alles anders, es begann ein Leben als Feinde des Regimes, als Verfolgte. Friedrich Marschner verblieb bis zum 11.März im Burgstädter Amtsgerichtsgefängnis. Dort traf er auf seinen Parteigenossen Erich Knorr, mit dem er am 11. März in der „Grünen Minna“ in das Chemnitzer Polizeigefängnis in der Hartmannstraße gebracht wurde. Von hier ging es am 17. März in das Untersuchungsgefängnis auf dem Chemnitzer Kaßberg. In den anderthalb Monaten dort hat Friedrich Marschner wohl schlimme Misshandlungen erlebt, wovon er später seiner Lebensgefährtin nur andeutungsweise berichtete. Die Tage verbrachten die Gefangenen in Zellen und die Nächte in überfüllten zellenähnlichen Drahtkäfigen. Am 2. Mai kam Friedrich Marschner zusammen mit seinem Bruder nach Sachsenburg und gehörte zu jenem Vorkommando, welches das Konzentrationslager Sachsenburg mit aufbaute. Die Gefangenen waren zunächst im Schloß Sachsenburg untergebracht, wechselten jedoch recht schnell in die hergerichteten Schlafsäle der ehemaligen Spinnerei. Am 8. Mai 1933 kam Paul Nestler in das KZ Sachsenburg, er wohnte zunächst ebenfalls im Schloß, wurde später mit Friedrich Marschner in einem Schlafsaal untergebracht. Paul Nestler erinnerte sich, dass in einem Schlafsaal etwa 500 – 600 Personen in Doppelstockbetten untergebracht waren, bei Vollbelegung hätte das KZ eine Kapazität von etwa 1800 Personen gehabt. Er erwähnte auch, dass Friedrich Marschner in der Tischlerei gearbeitet hätte. Sowohl Rudolf Marschner als auch Paul Nestler berichteten, dass im KZ eine relative Bewegungsfreiheit bestand und zunächst kaum körperliche Übergriffe stattfanden. Es wären Unterhaltungen erlaubt gewesen, so dass es sogar einen illegalen Austausch von Informationen gab. Der Geräteschuppen hätte gelegentlich für illegale Treffen gedient. Rudolf Marschner erinnert sich an eine holländische Besuchergruppe, Paul Nestler sogar an „mehrere ausländische Delegationen“, weshalb man an eine „Vorzeigeeinrichtung“ glaubte. Gerda Sittner berichtete, dass sie ihren Lebensgefährten fast jeden Sonntag in der Besuchszeit zwischen 14.00 und 16.00 Uhr besucht hatte und recht frei mit ihm sprechen konnte. Auch der Sportkamerad Max Weigel hatte Friedrich Marschner und Paul Nestler besucht. Er überbrachte sogar illegales Material und gab brisante Informationen zu Verhaftungen weiter. Nach Aussage von Rudolf Marschner wurde sein Bruder im September 1933 entlassen. Er erhielt die Auflage, sich anfangs täglich bei der Polizei zu melden. Friedrich Marschner, der aufgrund seines Könnens und seines Ansehens nicht einmal in der Weltwirtschaftskrise um 1930/31 arbeitslos war, hatte nun keine Arbeit mehr. Viele Menschen aus seinem Umfeld wandten sich vom ehemaligen Schutzhäftling und früheren „Roten“ ab. Mit den engsten Freunden gab es jedoch weiterhin eine intensive Zusammenarbeit. Sie praktizierten eine gefährliche illegale Arbeit mit geheimen Treffs und Besprechungen, dem Verteilen aus der CSR eingeführten illegalen Materials zur Aufklärung über das faschistische Regime oder der Kontaktaufnahme zu früheren Genossen. Das sogenannte Braunbuch (Enthüllungen zum Reichstagsbrand und Naziterror) kursierte unter den ehemaligen Genossen. Nach Verhaftungswellen in Chemnitz und auch in Burgstädt gab es für die Marschner-Brüder deutliche Hinweise auf eine erneute Verhaftung. So entschieden sie sich, am 22. Juni 1935 über Freiberg, Dresden und die Sächsische Schweiz in die CSR zu fliehen. Friedrich Marschner sollte seine Heimat nie mehr wiederzusehen. Er wirkte vor allem in Prag, wo er Aufklärungsarbeit in Großbetrieben leistete und an illegalen Verbindungen nach Deutschland arbeitete. Seine Lebensgefährtin Gerda Sittner hatte ihn dreimal heimlich besucht. Bei einem Besuch nahm sie auch ihre damals sechsjährige Tochter Irma mit, die später rührend über die letzte Begegnung mit ihrem Vater berichtete. Beim letzten Besuch von Gerda Sittner hatte sich in die Emigrantengruppe von Prag bereits ein Spitzel eingenistet. Nach ihrer Rückkehr nach Burgstädt wurde sie verhaftet und saß vom Sommer 1936 bis November 1937 im Gefängnis. Dort beschimpfte man sie auch als „Kommunistenschwein“. Sie meinte später, wäre ich die Ehefrau von Friedrich Marschner gewesen, hätte ich das bestimmt nicht überlebt.
Nach dem Angriff der Franco-Truppen auf die legitime Spanische Republik am 18. Juli 1936 gab es mehrere Aufrufe, darunter auch von der KPD, den spanischen Genossen zu Hilfe zu kommen. Offensichtlich glaubte Friedrich Marschner, mit der Verteidigung der Spanischen Republik am besten gegen den Faschismus kämpfen zu können. Etwa Ende Oktober 1936 begab er sich auf den Schienenweg nach Frankreich. Nach einem Zwischenhalt in Paris ging es weiter mit der Bahn bis in das Ausbildungslager nach Albacete. Bereits in Paris lernte Friedrich Marschner den deutschen Kommunist Vincent Porombka kennen. Beide blieben fortan stets zusammen. Nach einer vierwöchigen Ausbildung in Albacete wurden sie der Maschinengewehrkompanie des Tschapajew-Bataillons innerhalb der XIII. Internationalen Brigade zugeteilt. Ab dem 26. Dezember 1936 war das Bataillon in schwere Kämpfe um die Stadt Teruel verwickelt. Die Franco-Truppen hatten den vor der Stadt liegenden Friedhof als Festung ausgebaut und starteten von dort ihre Angriffe. Die Stellungen waren teilweise nur 100 bis 200 Meter voneinander getrennt. Nach schweren Kämpfen hatten sich die Franco-Truppen verstärkt und nunmehr ein deutliches Übergewicht an Menschen und Waffen geschaffen. Bei der dritten Attacke am 2. Januar 1937 mussten sich die Interbrigadisten zurückziehen. Vincent Porombka schilderte die Situation wie folgt. Beim Rückzug bemerkte er einen verwundeten Franzosen. Er nahm ihn sich auf den Rücken und versuchte ihn in Sicherheit zu bringen. Fast erreichte er den eigenen Graben, da erhielt er einen Streifschuss, fiel hin und wurde bewusstlos. Friedrich Marschner versuchte beide in den eigenen Graben zu bringen. Bei dieser Aktion erhielt er jedoch selbst einen Bauschuss und wurde schwer verletzt. Die Verwundeten Vincent Porombka, Karl Deutscher und Friedrich Marschner wurden gemeinsam in einen Wagen in ein Lazarett gebracht. Friedrich Marschner war hierbei nicht mehr ansprechbar. Trotz Operation erholte sich Friedrich Marschner nicht mehr. Sein Bruder Rudolf, der sich inzwischen ebenfalls in Spanien befand, erfuhr nur noch, dass sein Bruder im April 1937 im Lazarett bei Valencia gestorben war.
Text: Dr. Werner Beuschel
Quellen: Beuschel, Werner/Elsner, Wilfried: Leben und Kampf des Arbeitersportlers und Antifaschisten Friedrich Marschner – Ein Beitrag zur sporthistorischen Traditionspflege; Diplomarbeit Pädagogische Hochschule Zwickau, Sektion Sportwissenschaft, Zwickau, 1975; insbesondere Anhang: Interviewprotokolle von neun Zeitzeugen, 1974
Fotos: Heike Ruhland (Enkeltochter von Friedrich Marschner), Ralf Jerke
Zeichnungen: Aus Diplomarbeit s.o.